The Nels Cline 4 - Currents, Constellations

THE NELS CLINE 4 - Currents, Constellations         

Blue Note 00602567429104  / Universal

 

Veröffentlichung: 20. April 2018

 

 

 

Live

25.04.2018 Berlin, ZigZag Club

27.04.2018 München, Unterfahrt

 

 

Musiker: Nels Cline & Julian Lage - electric guitars / Scott Colley - double bass / Tom Rainey - drums

 

Seit Wilco-Gitarrist Nels Cline sich in den späten 1980er Jahren als Leader etablierte, verwirklichte er schon eine Reihe von hochkarätigen und abwechslungsreichen Projekten. Zu den ganz besonderen Highlights zählt er selbst sein Gitarren-Duo mit Julian Lage, das 2014 auf dem Album “Room” dokumentiert wurde. “Als Julian und ich anfingen, zusammen zu spielen, war es für mich der reinste Wahnsinn”, verriet Cline damals der JazzTimes. “Es war inspirierend und erfrischte gleichzeitig meine Seele.” Lage erklärte seinerseits, dass er in Cline “einen Seelenverwandten gefunden” habe: “Endlich habe ich ein Szenario gefunden, in dem man frei und experimentierfreudig sein kann, sich den Klang zunutze machen und extrem melodisch und atmosphärisch spielen kann.”

Das Duo ist immer noch aktiv, hat sich aber mittlerweile verändert und seinen Radius erweitert. Auf “Currents, Constellations”, Clines zweitem Album für Blue Note, ist es außerdem zum Nels Cline 4 angewachsen. Denn zu Cline und Lage gesellt sich hier ein ebenso stürmisches wie wendiges Rhythmusgespann, bestehend aus Bassist Scott Colley und Schlagzeuger Tom Rainey. Die Musik stammt bis auf eine Ausnahme - eine eindringliche Nummer, die Carla Bley einst für das Jimmy Giuffre 3 geschrieben hatte - aus Clines Feder.

Cline, der vom Rolling Stone zu den “100 besten Gitarristen” der Welt gerechnet wird, kennt man seit 2004 vor allem als Lead-Gitarristen der Indie-Rock-Band Wilco. 2016 sorgte er mit seinem Blue-Note-Debütalbum “Lovers”, das von der New York Times als “leise hinreißendes Doppelalbum” bezeichnet wurde, für viel Furore. Zu hören war Cline auf “Lovers” mit einem großen Ensemble unter der Leitung von Michael Leonhart, das - so meinte der Rolling Stone - “in seiner aquarellierten Art wahnsinnig erfinderisch war”. Auf “Currents, Constellations” ist die Instrumentierung nun wesentlich sparsamer, aber scharfkantiger, was wiederum der abenteuerlichen Schubkraft der Musik dient, die vor roher Energie und wilder Schönheit nur so strotzt.

“Schon in den Anfangstagen des Duos sagten wir oft: ‘Was könnten wir wohl alles anstellen, wenn wir eine Rhythmusgruppe hätten’”, erinnert sich Cline. “Zu dieser Zeit spielten Julian und Scott in Gary Burtons Quartett. Später wurde Scott dann Mitglied von Julians Trio. Interessanterweise stellte sich heraus, dass Scott und Tom in den 90er Jahren ein vielgefragtes Rhythmustandem gewesen waren und Hunderte von Auftritten zusammen absolviert hatten, aber nun schon seit Jahren nicht mehr miteinander gespielt hatten. Als ich ein längerfristiges Engagement in dem New Yorker Club The Stone erhielt, beschloss ich das Quartett dort zu präsentieren. Ich brachte ein paar Themen mit und dann spielten wir einfach drauflos. Alle waren so begeistert, dass wir übereinkamen, die Arbeit fortzusetzen.”

So wie es schon beim Duo der Fall gewesen war, ist die Chemie zwischen Cline und Lage auch hier wirklich atemberaubend. Aber Lage ist sich auch nicht zu schade, in die Rolle eines äußerst musikalischen Begleiters zu schlüpfen. Denn es geht hier laut Cline weniger darum, “unübertreffliche” Gitarrensoli zu präsentieren, als vielmehr darum, einem Ensembleklang Raum zu geben, sei es durch hitzige Kollektivimprovisationen oder durch eine feinfühligere und klarer umrissene Annäherung in kontemplativen Stücken.

Der Opener “Furtive” beginnt mit einem lauten, dissonanten Akkord und einer Schlagzeugsolo-Intro, bevor das Thema vorgestellt wird. Cline ließ sich hier von Duke Ellingtons “Tourist Point Of View” aus der “Far East Suite” inspirieren: “Eine Uptempo-Nummer mit einem Vamp, erstaunlich dichte Harmonien”, staunt Cline. “Es gibt nur winzige Schnipsel geschriebenen Materials, die durch Improvisationen miteinander verbunden sind. Die Einsätze gebe ich über Nummer: wenn ich zwei Finger hochhalte, spielen wir Phrase Nummer Zwei. Es ist ein Weg, die Interaktion zwischen den Gitarren auf eine Weise anzuspornen, die nicht solistisch ist. Und Scott und Tom können dann richtig Gas geben.”

Mit “Swing Ghost ‘59” wollte Cline, wie er sagt, “einen musikalischen Konflikt zwischen swingenden und gleichmäßigen Achtelnoten” darstellen. “Das Stück beginnt mit swingenden Achtelnoten, die dann stampfenden Achtelnoten weichen. Es ist, als würde man in eine Art mechanische Welt eintauchen, die sich dann wieder in Retro-Gitarrenklängen der Swingära auflöst, um noch einmal das Swingthema zu wiederholen. Danach wird der Swing erneut besiegt. Es ist eine ergreifende Ballade über das Swing-Feeling, das es einst in der Popmusik gab, heute aber nicht mehr existiert. Es ist trotzdem kein Klagelied, mich amüsiert die Vorstellung einfach nur.”

Das Stück “Imperfect 10” trug ursprünglich den Titel “Jazz Fusion Composition”. “Ich glaube, einige Leute sind enttäuscht, dass es nicht mehr so heißt”, meint Cline lachend. “Es ist ein geradlinig rockender Song, den zu spielen Spaß macht. Ich bat Tom diesen Beat zu spielen, den er regelmäßig spielt. Und als wir einmal losgelegt hatten, gab es kein Halten mehr.”

Die atmosphärische Ballade “As Close As That” wurde vor allem von Ralph Towner inspiriert. “Sie erinnert mich an von ihm geschriebene Stücke wie ‘Distant Hills’”, sagt Cline. “Ich denke, das könnte auch der Grund dafür sein, dass ich es so betitelt habe. Auf meinem Album ‘Destroy All Nels Cline’ (2001) gibt es ein Stück mit dem Titel ’The Ringing Hand’, das wie die episch- dramatische Version eines solchen Songs klingt. Von dieser Sorte schlummern ein paar in meinem Œuvre. Julian erweist sich hier als ein echter Kumpel und spielt eine reine Hintergrundrolle.”

“Amenette” ist ein Stück, das ursprünglich auf dem Duo-Album “Room” erschien. Und tatsächlich schalten Cline und Lage hier nach der ersten (mit bemerkenswerter Präzision gespielten) Unisono-Linie auch sofort in den Duo-Gang zurück. “Wir haben uns hier ein wenig auf das Gebiet des Free Jazz gewagt”, sagt Cline. “Das Stück lädt zu einer bestimmten Art von Wechselspiel ein und gibt jedem Gelegenheit, ein bisschen in den Vordergrund zu treten. Das Riff erinnert mich an Scott Amendolas ‘Street Beat’ und auch an Ornette [Coleman], daher der Titel ‘Amenette’.”

Die Alben des Jimmy Giuffre 3 würde Nels Cline auf die berühmte einsame Insel mitnehmen. Carla Bleys “Temporarily” stammt von der 1992 bei ECM Records erschienenen Neuausgabe des Albums “Thesis”. “Nachdem ich über die Ausrichtung der Band nachgedacht hatte”, sagt Cline, “schien mir, dass dieser Song ziemlich genau definierte, was mir vorschwebte: ich wollte schönes, täuschend einfaches, aber dennoch sehr eingängiges thematisches Material haben, das den Weg zu einer völlig spontanen Musik ebnet, die man allgemein als Kammerjazz bezeichnen könnte. Und das ist unsere Version dieser Art von Musik. Soweit ich weiß, gibt es von diesem Lied keine andere Aufnahme. Es ist eine echte Carla-Bley-Rarität. Ich habe keine Ahnung, welche Geschichte hinter diesem Lied steckt.”

Das zweiteilige “River Mouth” ist “die Art von Stück, die ich mir gerne anhöre”, sagt Cline. “Julian spielt die Arpeggios, bestimmte Voicings, die ich geschrieben habe. Mit seiner Diatonik und seinen Time-Abweichungen ist es sehr post-‘In A Silent Way’. Es ist ein weiteres Stück, bei dem ich solo spiele und Julian eine unterstützende Rolle übernimmt. Aber wir spielen zusammen auch eine Menge unisono. Ich bin gespannt, wie sich der Song entwickelt, wenn wir ihn öfter live spielen. Ich betrachte das ganze Stück als einen Fluss - es hört nicht auf, es fließt ewig weiter. Es endet genau so wie es begann. Es ist ein großer Kreis.”

“For Each, A Flower” ist eine abschließende Hommage an einige Kollegen und Freunde Clines, die jüngst verstarben: “Die Gitarristen John Abercrombie und Bill Horvitz, Pianistin Geri Allen, Gitarrenbauer Bill Collings, Bassist John Shifflett - es wurde einfach zu viel”, sagt Cline. “Also schrieb ich dieses Stück. Es könnte sogar solo gespielt werden. Es ist eine Coda. Ich werfe ihnen allen einfach nur eine Kusshand zu.”