Clara Haberkamp Trio – Reframing The Moon

Es gilt als Tugend, Schwächen in Stärken zu verwandeln. Gut so. Die Berliner Pianistin Clara Haberkamp ist aber schon ein Stück weiter, denn in einem beständigen Prozess der Osmose verwandelt sie Stärken längst in weitere Stärken. Alles, was wir von ihr kennen und zu schätzen gelernt haben, ist im Kern noch enthalten, nur extrem gelöst, entrümpelt, aufgeräumt.

Auf einem beständigen Weg der Vervollkommnung geht es der feinfühligen Ton-Poetin nicht um Perfektion, sondern darum, sich auf jeder Station des Weges neu zu erfinden, ohne das Erreichte zu verleugnen. Der jüngste Beleg für diese Maxime ist „Reframing The Moon“, das neue Album des Clara Haberkamp Trios.

Trotz ihrer jungen Jahre hat sich Clara Haberkamp bereits eine außerordentlich markante Handschrift als Komponistin zugelegt. Ausdruckskraft, Seelentiefe und die weltweit vielleicht einzigartige Fähigkeit, produktive Zweifel in sinnlichen Klang zu übersetzen, gehören zu ihrem Markenkern, dem sie sich auf jedem ihrer Alben aus einer anderen Perspektive annähert. Auf „Reframing The Moon“ schlägt sie nun abermals ein neues Kapitel auf. Nie zuvor klang Clara Haberkamp so entrümpelt und aufgeräumt wie in diesen zehn Kompositionen, die über einen Zeitraum von zwei Jahren entstanden sind. Alles, was man von ihr kennt und zu schätzen gelernt hat, ist im Kern noch enthalten, nur extrem gelöst. Für die Pianistin war das ein logischer Schritt. Sie öffnete sich der Improvisation, fokussierte sich voll und ganz auf den Klang des Klaviers und schöpfte die Bandbreite seiner Möglichkeiten aus.

Vom Kokon der externen Erwartungen befreit, spielt sie einfach nur noch unerschrocken drauflos. „Ich habe begriffen, dass die Gedanken, die man sich zu einem Stück macht, am Ende überhaupt nicht mehr wichtig sind. Nur das, was dabei rauskommt, zählt. Es ist wahnsinnig anstrengend, alles zu zergrübeln und fünfmal zu hinterfragen. Diese Zeit kann man viel besser für andere Dinge nutzen. Man kann immer eine Entscheidung treffen, von einem Moment auf den anderen. Diese Erkenntnis war für mich sehr befreiend.“

Wäre es an dieser Stelle nicht angebracht, nach namhaften Vergleichen für das Clara Haberkamp Trio zu suchen? Nein, denn die Berlinerin hat von Anfang an unbeirrbar ihren eigenen Weg eingeschlagen. Als eine Künstlerin, die mit offenen Sinnen durch die Welt geht, saugt sie tausenderlei Eindrücke auf, die sie für sich selbst verarbeitet und im Fundus ihrer Imaginationen ablegt, um sie bei Bedarf abzurufen. Auf „Reframing The Moon“ widersteht sie konsequent der Ablenkung von den eigenen Befindlichkeiten, wirft allen Ballast ab und konzentriert sich aufs Wesentliche. Was gesagt werden muss, wird gesagt, alles Übrige darf und soll ungesagt bleiben. Anstatt alle Wege auf einmal zu gehen, wählt sie in jedem Track eine klar umrissene Wegstrecke aus, der sie wie nach einer Landkarte folgt. Sich ihrem Trio auf diesen Spuren anzuschließen, ist wie das Zeichnen einer ganz eigenen Klang-Topografie.

Diese Beschränkung aufs Wesentliche ist keine individuelle Errungenschaft der Bandleaderin, sondern definitiv eine Trioleistung. Schlagzeuger Tilo Weber war von Anfang an im Clara Haberkamp Trio dabei. Er ist der ruhende Pol der Troika. Man muss ihn nicht immer hören, um ihn trotzdem in jedem Augenblick zu spüren. Kaum ein anderer Drummer seiner Generation verfügt über eine derart transzendente Physis. Auch Bassist Oliver Potratz strahlt die Ruhe eines hungrigen Routiniers aus, der immer das konkrete Ziel im Auge behält. Wie ein Segler kann er sich weit aus dem vorgegebenen Rahmen lehnen und ins offene Wasser hinaussteuern, ohne jemals das Ufer aus dem Blick zu verlieren. Seine Liebe zum Detail geht weit ins narrative Risiko, ergibt aber im Gesamtkontext mit beeindruckender Zuverlässigkeit immer Sinn. Diese gemeinsam erworbene Gelassenheit übersetzen die drei Mitglieder des Trios in spontane Eleganz und immanente Elastizität. Die Dichte der Intentionen wird am Ende so stark, dass man sich beim Hören gar keine Gedanken mehr machen muss, wer im Trio welchen Anteil am Rausch der Ereignisse hat.

In diesem Zusammenhang ist die Dramaturgie des Albums spannend. Der erste Track, die Soloimprovisation „Firmament“, erinnert ein Stückweit an die großen russischen Konzertpianisten des letzten Jahrhunderts, denn er ist an Dramatik kaum zu überbieten. Dieser Song ist das große Portal zu einem musikalischen Garten voller Blumen, Kräuter, schattenspendenden Büschen und Bäumen, Vögeln, Käfern und Schmetterlingen sowie einem Bach, der dem Garten Leben einflößt. Hinter jeder Ecke dieses Gartens duftet es anders, werden neue Einblicke sichtbar. Ein verbindendes Moment des in seiner Anlage sehr heterogenen Albums ist Bewegung. Die einzelnen Tracks beschreiben Bewegungszustände wie Laufen, Schreiten, Tanzen, Gleiten oder Schweben. Diese unterschiedlichen Bewegungsabläufe ermöglichen auch dem Ohr in jedem Stück einen anderen Zugang.

Neu ist für das Clara Haberkamp Trio der Einsatz eines Fender Rhodes Pianos. Es setzt erst in der zweiten Hälfte des Albums in dem Song „Twist“ ein, wird aber so organisch in den Gesamtkontext eingefügt, dass sich trotz seiner besonderen Klanganmutung kein ästhetischer Bruch im Erzählfluss des Trios ergibt. „Auf welchem Instrument ich spiele, macht für mich gar keinen großen Unterschied“, bestätigt Clara Habercamp. „Auf dem akustischen Piano denke ich natürlich an die Saiten, das Holz und alles, was damit zusammenhängt. Auch beim Fender Rhodes denke ich an die Hämmerchen. Würde ich auf einem Synthesizer mit all seinen Sounds spielen, müsste ich mein Mind Set nochmal komplett ändern, aber auf dem Fender Rhodes denke ich ebenfalls eher akustisch. Ich lasse mich immer vom Sound leiten.“ Bei jeder Nuance, jeder Schwingung, jeder Verschiebung der Intentionen geht es immer ums Ganze. Wie in Robert Altmans Film „Short Cuts“ verweben sich einzelne Momente und Gedankenstränge zu einem holistischen Gesamtwerk, das jedoch auf keine einzige dieser Nuancen verzichten könnte.

Gibt es ein Synonym für Magie? Zauber, Verve, Kraft, Wucht, Charme … nichts davon trifft auch nur annähernd den beseelten Sog von „Reframing The Moon“. Aber könnte man es in einem oder zwei Wörtern zusammenfassen, gäbe es ja keinen Grund, das Album zu hören. Kraft ihrer unverstellten Emotionalität brauchen Clara Haberkamp, Oliver Potratz und Tilo Weber weder Pinsel noch Worte, um allein durch die volle Konzentration auf den Sound aus ihren Kompositionen Bilder, Gedichte und Choreografien zu machen.

https://www.clarahaberkamp.de/

Malletmuse / LC 84917 / 4251546300307 / Vertrieb: NRW

Veröffentlichung: 13.August 2021

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