Jarry Singla Eastern Flowers – Confluence 

special guest Pratik Shrivastav (Sarod)

Jarry Singlas Eastern Flowers und Pratik Shrivastav (Sarod) ebnen den Weg in die Zukunft mit einer zu 100 Prozent inklusiven Musikauffassung. Ebenso selbstbewusst wie feinfühlig, gelingt es aus Vorhandenem und Bekannten etwas genuin Neues zu schaffen

 

Ein Ton, ganz zart, fast fragend, auf einem Instrument, das sich bei genauem Hinhören als die indische Langhalslaute Sarod herausstellt. Ein Klavier tröpfelt vom anderen Ende der Welt in diesen für westliche Ohren zunächst exotisch anmutenden Klang hinein, und sogleich verbinden sich beide Idiome zu einer gemeinsamen Erzählung, die weder Himmelsrichtung noch Zeitalter kennt und schon gar keiner Benennung bedarf. Gegensätze heben sich auf, Traditionslinien fließen ineinander. Ein Stück später gesellen sich Bass und Percussion hinzu, machen die Musik runder, weicher, voller. Wege verzweigen sich und finden wieder zusammen. Was hier passiert, steht ganz für sich selbst und will nicht beschrieben, sondern einzig gehört werden.

Der Name Jarry Singla ist seit Jahrzehnten ein Synonym für die organische Osmose von klassischer indischer Musik und Jazz. Mit seinem neuen Album ‚Confluence‘ zeigt der deutsch-indische Pianist erneut, dass sich solche Floskeln zwar leicht dahinsagen, dahinter aber ein viel komplexeres und facettenreicheres Gewebe steht, als sich das mit noch so griffigen Formeln ausdrücken lässt. Worte – in welcher Sprache auch immer – können nicht ansatzweise jene spirituellen Tiefen beschreiben, die Singla und seine Band Eastern Flowers gemeinsam mit dem indischen Sarodspieler Pratik Shrivastav auf ‚Confluence‘ erschließen. Denn würde es wirklich gelingen, Musik mit Worten gerecht zu werden, wozu bräuchten wir dann noch die Musik selbst?

Versuchen wir es also gar nicht erst, sondern fangen am Anfang an. Seit 2008 arbeitet Singla mit Bassist Christian Ramond und Perkussionist Ramesh Shotham in dem Trio Eastern Flowers zusammen. Alle drei verbindet das gemeinsame Interesse an Jazz auf der Grundlage indischer Musik und umgekehrt. Anlässlich der Feierlichkeiten zum 60-jährigen Jubiläum des Beginns der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Indien hatte die Gruppe 2011 die Möglichkeit, durch Indien zu touren. Auf dieser Reise eröffnete sich für den Pianisten 2013 die Chance, mit einem Stipendium für ein halbes Jahr in Mumbai zu leben. Er suchte nach Begegnungen mit Musikern aus der klassischen Tradition, die offen für andere Formen der Zusammenarbeit sind. Aus diesen Aktivitäten entwickelte sich das Ensemble The Mumbai Project zunächst als Quintett mit Klavier, Kontrabass, nordindischem Gesang, Sitar und Tabla. Als 2014 eine Tour durch Deutschland anstand, stieß Ramesh Shotham zu der Gruppe und Pratik Shrivastav ersetzte den Sitarspieler. Seitdem arbeiten Singla und der Sarod-Virtuose zusammen. Auf ‚Confluence‘ offenbart sich nun eine Quartett-Version des Mumbai Projects.

Sitar und Tabla sind spätestens seit den 1960er Jahren auch in Europa etablierte Instrumente, die Sarod hingegen ist hierzulande weit weniger bekannt. Jarry Singla zieht die Sarod im Kontext seiner Musik der Sitar vor, weil sie weniger schwebend, dafür aber etwas perkussiver und griffiger ist, wie er betont. „Die Sitar“, so Singla, „braucht vielleicht mehr Raum, um ihren Klang zu entwickeln, denn sie ist ein etwas zarteres Instrument. In einer Bandsituation mit Perkussion gibt es manchmal aber gar nicht so viel Raum. Da passt die Sarod besser.“ Dazu muss allerdings gesagt werden, dass der Pianist den Klang und das Narrativ der Sitar seit seiner Kindheit derartig verinnerlicht hat, dass er auf seinem Instrument selbst oft unbewusst die Erzählhaltung der Sitar übernimmt.

Für Singla ging es jedoch gar nicht so sehr um die Frage Sitar oder Sarod, sondern um eine ganz andere Herausforderung. Die klassische indische Musik basiert immer auf einem Grundton, zu dem alle Töne, die in einem Stück gespielt werden, in Beziehung stehen. Im Jazz geht es jedoch zumeist um Akkordwechsel. „Vielen klassischen indischen Musikern wird dabei der Boden unter den Füßen weggezogen, weil mit jedem Akkord der Grundton wechselt“, erläutert Singla. „Die sind dann orientierungslos, weil sie das, was sie hören, nicht so schnell auf die wechselnden Grundtöne beziehen können. Pratik hört viel westliche Musik und bringt ein großes Interesse an Jazz mit. Für ihn kann ich in einem gewissen Rahmen Musik mit wechselnden Grundtönen komponieren.“

Nun gelingt Singla gemeinsam mit Ramond, Shotham und Shrivastav aber ein Kunststück, das man in dieser Konsequenz nur sehr selten hört. Bei aller theoretischen und konzeptuellen Unterfütterung macht er die Hörer völlig vergessen, aus welchen Komponenten, Traditionen und musikalischen Systemen seine Musik überhaupt besteht. Die Sounds auf dem Album sind so transparent und dabei doch so dicht, dass man sich davon komplett wegtragen lassen und in andere Sphären vordringen, alles Bekannte abstreifen und nur noch das genießen kann, was die Stücke selbst uns erleben lassen. Die individuellen Assoziationsketten sind dabei völlig frei. Ihre Selbstverständlichkeit wirkt wie Atmen oder Schlafen. Diese Musik ist einfach da.

Für Singla hängt diese Selbstverständlichkeit ganz stark mit der Entstehungsgeschichte vieler Songs zusammen. „Ich bat Pratik darum, für mich ein paar kurze Raga-Improvisationen aufzunehmen, die nicht länger als zwei Minuten sein sollten. Er spielte erst die jeweilige Tonleiter auf und ab und improvisierte dann damit. Per E-Mail schickte er mir vier verschiedene Raga-Schnipsel, die ich Note für Note transkribierte. Von bestimmten Motiven ließ ich mich inspirieren. Pratiks Ideen sind also der Ausgangspunkt für meine Kompositionen, die sich jedoch von den ursprünglichen Raga-Tonleitern wegentwickeln.“

In Zeiten globalisierter und digitalisierter Klanganeignung spielt es bekanntlich kaum noch eine Rolle, welche musikalischen Kulturen und Epochen man auf welchen Wegen auch immer miteinander in Verbindung bringt. Alles ist verfügbar und zu fast allem kompatibel, sofern man das nur will. Im Gegensatz zu diesem Global-Village-Denken gelingt es Jarry Singla auf ‚Confluence‘ ebenso selbstbewusst wie feinfühlig, aus Vorhandenem und Bekannten etwas genuin Neues zu schaffen. Im Wissen um die Diversität der Tradition überwinden Jarry Singlas Eastern Flowers und Pratik Shrivastav alle vermeintlichen Antagonismen und ebnen mit einer zu 100 Prozent inklusiven Musikauffassung den Weg in die Zukunft – für sich, für uns, für künftige Hörer.

jarrysingla.com/eastern-flowers

JazzSick Records / LC 11708 / 885150708569 / Vertrieb: Membran

CD

VÖ: 14. Juni 2024

Live

Trio (ohne Pratik Shrivastav)

08.06.2024 Heek, Landesmusikakademie
17.08.2024  Düsseldorf, Hofgarten

Quartett (ohne Pratik Shrivastav, aber mit dem Sänger Sanjeev Chimmalgi)

23.10.2024 Köln, Domforum

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