Joe Sachse Nils Wogram – Freies Geröll

„Wer sich zu zweit auf die Bühne wagt,“ schrieb der unvergessene Michael Naura, „liefert neben Musik auch sein Psychogramm ab. Der soziale Aspekt innerhalb eines Jazzensembles tritt in einem Duo besonders scharf hervor. Mit etwas Pathos: Im Duo zeigt sich der Mensch wie unter einer Lupe. Unter Musikern gilt: Spiele im Duo und ich sage dir, wer du bist.“

 

Dem Dialog mit Joe Sachse ist der swingende Grundgestus immanent, auch das Bluesfeeling in einem sehr weit gefassten Sinne. Dieses Duo und sein Groove gleichen einem Glücksfall

Wie kommt es, dass das alles selbstverständlich, so freundlich, freudig und mitreißend wirkt… Wohl so nur, weil sich hier zwei Wahlverwandte getroffen haben. Zwei Musiker, aufgewachsen in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Umgebungen, zwei grundverschiedene Charaktere, und doch zwei, die sich intuitiv verstehen, die sich gegenseitig bewundern und die mit einer Lockerheit zusammen spielen, als wären das die natürlichste Sache der Welt. Helmut „Joe“ Sachse, fast ein Vierteljahrhundert älter als Nils Wogram, ist in der DDR groß geworden und musste sich seinen Weg zum Jazz gegen alle Widerstände selbst bahnen – von der Tanz- und der Rockmusik zum freien Spiel und weiter zu einer unverwechselbaren Sprache auf dem Instrument. Nils Wogram ist in eine etablierte Jazzszene hineingewachsen und hat sich sowohl als Instrumentalist als auch mit einer ganzen Reihe langfristig miteinander arbeitender Bands eigenständig profiliert. Joe fasziniert an Nils die Versalität: „Er kann alles spielen.“ Und Nils schwärmt von Joe Sachses autarker Musikalität: „ein ganz seltenes, kostbares Gut“.

Begegnet sind sich die beiden erstmals vor vielen Jahren beim Jazzfestival im italienischen Clusone. Nils Wogram spielte dort im Duo mit dem Pianisten Simon Nabatov, während Joe im Duo mit seinem Gitarrenkollegen Uwe Kropinski auftrat. Damals war die Sympathie auf beiden Seiten schon da, doch damit sich der Funke entzünden konnte, bedurfte es eines Anlasses. Dieser ergab sich, als Thomas Brückner, Veranstalter der Reihe Campus Jazz im Leipziger Mediencampus Villa Ida, Joe Sachse 2012 eine Carte Blanche für ein Konzert gab und dieser sich eine Begegnung mit Nils Wogram wünschte. Das Duo der beiden, zunächst überwiegend frei, startete fulminant, wurde mitgeschnitten und auch auf einer CD „Free and Tremendous“ (Jazzwerkstatt) veröffentlicht. Seither haben Nils und Joe immer wieder zusammengefunden und Konzerte gegeben.

Schließlich entstand der Wunsch, gemeinsam ins Studio zu gehen und auch Stücke aufzunehmen, was dann im November 2021 in Bremen gelang. Drei Tage insgesamt hatten die beiden Zeit, um in entspannter Atmosphäre an der Musik und am Sound zu feilen und an zwei Tagen aufzunehmen. Das legendäre Studio Nord in Bremen, wo die Musiker auch wohnen konnten, bot dafür den passenden Rahmen. Beide hatten überwiegend für diesen Anlass und schon mit der Besonderheit des Duos im Hinterkopf geschriebene Stücke mitgebracht. Realisiert freilich hat sich eine Musik, die vom Papier abhebt und in enger Verflechtung von Komponiertem und spontanem Spiel ihren eigenen Weg findet. Präzision und Freiheit in furiosem Miteinander. So etwas gelingt nur, weil beide so viel in ihr Spiel investiert haben, dass sie die raffiniertesten Dinge mühelos bewältigen können. Beide – Nils Wogram und Helmut „Joe“ Sachse – sagen übereinstimmend, dass sie sich im Fluss dieses Duospiels wohl fühlen. Das merkt man an der Wärme des Klanges, an der Leichtigkeit, mit der sie zueinander finden, in den Entsprechungen – sei es in rasanten Unisoni, im Mit- und Gegeneinander melodischer Linien, im souveränen Gang durch die Akkorde und im Parcours über vertrackte Rhythmen. Letztlich wirkt alles ganz einfach, unangestrengt, intellektuelle Erwägungen hinter sich lassend, im besten Sinne spielfreudig, einander und den Zuhörenden zugeneigt.

Die Musiksprachen finden zueinander und die Instrumente zu einem gemeinsamen Klang. Sicher kein Zufall, dass Joe Sachse schon immer und gern mit Posaunisten gespielt hat, etwa im Quartett „Doppelmoppel“ oder auch im Duo mit Conny Bauer, Johannes Bauer oder Albert Mangelsdorff. Und auch Nils, von dem man ja durchaus sagen kann, er habe bei aller Selbstbestimmtheit auch etwas von einem Mangelsdorff-Gen, spielt in einem Duo mit Conny Bauer. Es gibt also zahlreiche Querverbindungen. Nicht, was den Stil, wohl aber was den musikalischen Kompass anbelangt, so folgt Joe Sachse seinem geistigen Mentor John McLaughlin, der einmal sagte, eine musikalische Fusion kann nur dann überzeugen, wenn sie verinnerlicht wird. Auf diese Weise gelang es Joe Sachse, Jazz und Rock, Coltrane und Hendrix, Spanisches und Amerikanisches, Akustisches und Elektrisches, an Harmonien orientiertes und freies Spiel zu integrieren. Nichts davon lässt sich heute isolieren. Zudem ist Joe Sachse so etwas wie eine Ein-Mann-Band mit einer eigenen Rhythm Section. Als ebenso komplex wie das Spiel auf den Saiten erweist sich die Verknüpfung mit dem perkussiven Einsatz der Füße – mit dem rechten auf dem Gitarrenkoffer wie auf einer Bassdrum und mit dem Linken wie auf einer Hi-Hat agierend, beides per Mikrophon abgenommen, ebenso pragmatisch wie eigenständig der Hightech per Erfindungsgeist voraus. Nils Wogram: „Ein Unikat.“

Wichtiger als technische Details ist der feine Sinn dieses Duos für Dynamik und Dramaturgie. Nils Wogram hat immer wieder betont, wie stark er – bei allen Erweiterungen und Verzweigungen des Ausdrucks – aus der Jazztradition kommt. Das spürt man, mal stärker, mal sublimer, bei all seinen Gruppen und Spielkonstellationen. Dem Dialog mit Joe Sachse ist der swingende Grundgestus immanent, auch das Bluesfeeling in einem sehr weit gefassten Sinne. Dieses Duo und sein Groove gleichen einem Glücksfall, womit man fast unvermeidlich wieder auf die Wahlverwandtschaft der beiden zu sprechen kommt. Bei allen Unterschieden – Joe ist eher der Selbstzweifler mit dem Zitatenschatz eines Karl Kraus in der Tasche und Nils eher der unerschrocken Voranschreitende – gleichen sich die beiden, auch in ihrem Familiensinn, ihrer Liebe zu ihren Frauen und in der Lauterkeit ihres musikalischen Tuns. „Wer sich zu zweit auf die Bühne wagt,“ schrieb der unvergessene Michael Naura, „liefert neben Musik auch sein Psychogramm ab. Der soziale Aspekt innerhalb eines Jazzensembles tritt in einem Duo besonders scharf hervor. Mit etwas Pathos: Im Duo zeigt sich der Mensch wie unter einer Lupe. Unter Musikern gilt: Spiele im Duo und ich sage dir, wer du bist.“

nwog Records 047/0042706597606/LC 77779 / Vertrieb: Indigo

VÖ: 23.09 2022

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