Matthew Halpin – Agreements

Musikalisch zu hundert Prozent in der Gegenwart verortet, greift der irische Saxofonist Matthew Halpin unbewusst auf jenen Gemeinschaftsgeist zurück, der in den Anfangstagen der Motor des Jazz war. Es geht um die Energie des Aufbruchs und den Triumph der Ankunft. Ganz starkes Album!

Ein satter Hammond-Groove wie aus einem alten Science Fiction-Film, ein Schlagzeug, das sich aus dem Hintergrund anschleicht, bis das Saxofon das Kommando übernimmt und die gesamte Mannschaft entschlossen aufbricht. Volle Kraft voraus! Um neue Gefilde zu erreichen, muss man sich auf den Weg machen, und je mehr Kraft in den Beinen steckt, desto eher kommt man an. Doch vor dem Aufbruch gilt es, den Rucksack zu packen. Denn – auch das ist ein Teil der Wahrheit – um sich auf neuem Terrain einzurichten, bedarf es vertrauter Dinge. Um im Bild zu bleiben, ohne Wanderschuhe, Kochgeschirr, Regensachen, Zelt und Schlafsack geht es wohl nicht.

Nein, das soll kein Reiseführer werden, und falls doch, dann um die einzigartige Reise zu beschreiben, auf die uns der irische Saxofonist Matthew Halpin auf seiner CD „Agreements“ mitnimmt. Er geht vom Bekannten aus, um damit eine neue Erfahrung zu vermitteln. Es geht dem Wahlkölner nicht darum, konzeptionelle oder spielerische Cleverness zur Schau zu stellen, sondern einzig darum, seine Musik mit der größtmöglichen individuellen und kollektiven Leidenschaft zu spielen. Es geht um die Energie des Aufbruchs und den Triumph der Ankunft.

„Einer für alle, alle für einen“, ließ Alexandre Dumas seine Musketiere ausrufen. Für Matthew Halpins musikalische Vision ist die Auswahl seiner Weggefährten enorm wichtig, denn sie sind Teil seiner Lebensreise. Drummer Sean Carpio lebt in Dublin. Halpin selbst ist in Dublin aufgewachsen und hat sich schon als Teenager an Carpio orientiert. Er habe ihn eher als Fan gekannt, gibt er etwas verlegen zu. Damals habe er Carpio als den Youngster wahrgenommen, mit dem die ganzen etablierten Jazzmusiker spielen wollten. Von Anfang an schätzte er dessen positive Energie, die er nun in seiner eigenen Band zu neuer Blüte führen kann. Als Halpin 18 wurde, ging er nach Boston ans Berklee College of Music, wo er dem ungemein feinsinnigen Perkussionisten Sergio Martinez begegnete. Mit Carpio wie mit Martinez verspürte der Saxofonist von Anfang an eine geradezu magische natürliche Verbundenheit. Mit Organist Kit Downes eint Halpin eine enge Zusammenarbeit, seit er in Köln angekommen ist. Gemeinsam haben sie zahlreiche Bands und Projekte in Köln und Irland aufgestellt. Auch Gitarrist Hanno Busch lief ihm in Köln über den Weg. Halpin ist von Buschs Spiel überwältigt und fühlt sich selbst darin komplett verstanden, denn Busch gibt ihm handfest Paroli, um im nächsten Augenblick mit ihm gleichzuziehen. Als es zu „Agreements“ kam, hatten sich die meisten der beteiligten Musiker noch nie getroffen. Insofern war es in jeder Hinsicht ein gemeinsamer Aufbruch, und diese Energie kann man hören.

Der Albumtitel ist auf den ersten Blick nahezu irreführend, denn besonderer Agreements hat es nicht bedurft. Halpin wusste intuitiv, dass diese Musiker gemeinsam zum Ziel gelangen würden. Man musste sich nicht erst lange über musikalische Haltungen oder Lebensläufe austauschen, sondern konnte einfach loslegen. Halpin hatte darauf bewusst verzichtet, den einzelnen Musikern verschiedene Parts zu geben, sondern alle arbeiteten mit demselben Notenmaterial. Die Noten waren handgeschrieben, um so jeden Musiker zu seinem persönlichsten Ton herauszufordern. Bei der Erinnerung an die Session gerät Halpin ins Schwärmen. „Der Prozess war einfach. Ich habe ihnen die Musik gegeben, wir spielten es und nahmen es auf. Ich kann nicht einmal sagen, dass alles First Take gewesen wäre, denn eine Aufnahme für das Album war sogar schon am Probentag entstanden. Der Toningenieur hatte beschlossen, auch die Proben aufzunehmen, und das erwies sich als Glücksfall. Ich hatte gar kein Interesse, mir selbst die Hauptrolle in der Band zu geben. Sicher bin ich als Bandleader der Entscheidungsträger, aber als Instrumentalist wollte ich eher dekorieren, umverteilen, Energie lenken und mir in bestimmten Momenten ein Spotlight gönnen, aber auch den anderen diese Spots einräumen. Wenn ich ein Solo spiele, denke ich immer darüber nach, was danach passiert. Es sollte also definitiv keine Saxofonplatte werden. Ich respektiere mein Saxofon, aber die Musik respektiere ich viel mehr.“

 

Obwohl „Agreements“ zu hundert Prozent in der Gegenwart verortet ist, greift Halpin unbewusst auf jenen Gemeinschaftsgeist zurück, der in den Anfangstagen der Motor des Jazz war. Heute finden wir diesen Spirit eher im Heavy Metal oder Alternative Rock als im Jazz. Halpin selbst vergleicht die Kompaktheit in seiner Gruppe, bei der jede Eitelkeit außen vor bleibt, eher mit Folk Music, bei der es immer auf den Song und nie auf das Individuum ankommt. In Halpins Songs klingen nicht einmal die Soli wie Soli, sondern die ganze Mannschaft folgt dem logischen Fluss der Tracks. Verwundbarkeit im Spiel ist dem Saxofonisten ebenso wichtig wie die Fähigkeit, in jedem einzelnen Moment des musikalischen Weges mit der Umgebung zu kommunizieren. Auch als Musiker will er immer noch Hörer bleiben, und zwar nicht nur im oft zitierten Sinne, dass er den anderen Musikern beim Spiel zuhört, sondern indem er in seiner Musik etwas hören will, das ihn selbst berührt und weiter trägt. Klingt selbstverständlich, ist es aber nicht.

Wenn man auf eine Reise geht, dann gibt es viel zu sehen. So kraftvoll und kompakt „Agreements“ als Bandprojekt rüberkommt, so überraschend sind doch die von Track zu Track wechselnden Perspektiven. Und wenn man nach zehn Songs das Gefühl hat, dem Reiseziel auf Blickdistanz nahegekommen zu sein, entpuppt im letzten Track „Sleep“ doch alles ganz anders als erwartet. Nach der geballten kollektiven Power der zehn ersten Songs findet man sich plötzlich in einem liebvoll gehegten Vokalgarten wieder. Auf den letzten Metern gibt der Chor von Veronika Morscher, Rebekka Salomea Ziegler und Laura Totenhagen dem Kurs einen völlig anderen und vor allem sehr friedvollen Dreh.

Wenn man gemeinsam aufbricht, kommt man auch nur gemeinsam an. „Agreements“ ist mehr als ein gelungenes Debüt. „Die Offenheit und Musikalität aller Beteiligten brachte uns erfolgreich über die Ziellinie“, resümiert Matthew Halpin und wirft ein: „Ich glaube kaum, dass ich es mir allein auf die Fahnen schreiben kann, dass die Musik gelungen ist. Was ich mir hingegen durchaus auf die Fahnen schreiben kann, ist die Zusammensetzung dieser Band.“ Demut ist aller Weisheit Anfang, und so liegt dieser Musik eine Kraft und Ursprünglichkeit zugrunde, die sich mit nahezu jedem Lebensentwurf synchronisieren lässt. Und in genau diesem Sinne ist dann doch auch das Motto dieser musikalischen Reise zu verstehen. „Agreements“ ist eine Übereinkunft der Band mit dem Hörer, sich bedingungslos auf diese Musik einlassen zu können.

www.matthewhalpinmusic.com

CD: Frutex Tracks / FTD012CD / 4260357910179 / Vertrieb: Hey!blau

Digital: Frutex Tracks / FTD012D / 4260357910186 / Vertrieb: Hey!blau

Veröffentlichung: 14. Mai 2021

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