Max Frankl – 72 Orchard Street

‚Ich habe das Gefühl, meine Stimme als Gitarrist so klar artikulieren zu können, wie ich das noch auf keinem Album zuvor empfunden habe. In dieser Hinsicht ist es ein zweites Debütalbum geworden.‘ Max Frankl

 

Es ist ein großes Geschenk, wenn man einfach nochmal von vorn anfangen kann. Umso mehr, wenn diesem Anfang bereits eine ganzer Katalog persönlicher Errungenschaften vorausgeht. Der in Zürich lebende deutsche Jazzgitarrist Max Frankl hat in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten bereits sieben Alben unterschiedlichster Couleur veröffentlicht, jede Menge Preise wie den ECHO Jazz eingeheimst und mit einer beachtlichen Musikerriege von Weltrang gemeinsam auf der Bühne oder im Studio gestanden. All das spielt für sein achtes Album „72 Orchard Street“ überhaupt keine Rolle, denn Frankl geht selbstbewusst über Null und startet völlig neu durch.

Gemeinsam mit Posaunist Nils Wogram, Saxofonist und Klarinettist Reto Suhner, Bassist und Gimbri-Spieler Patrick Sommer und Drummer Lionel Friedli durchläuft er auf dem Album ganz unterschiedliche Klangzustände. Der am Anfang stehende Titeltrack ist von rockiger Roughness, „Clinton Avenue“ wirkt fast wie ein Big-Band-Arrangement, „Eiszeit“ strahlt eine beinahe ambientartige Ruhe aus, das von Nils Wogram komponierte „Birds“ nähert sich ein Stückweit der Neuen Musik an, „Mr. Goodchord“ ist eine frei fließende Verneigung vor dem Gitarristen Mick Goodrick, das Timbre von „Myrtle Avenue“ schmiegt sich zwischen „Clinton Avenue“ und „Eiszeit“, und das abschließende, aus der Feder von Reto Suhner stammende „Adios Machos“ geht weit in Richtung Americana.

Dass all diesen unterschiedlichen Stücken trotzdem ein gemeinsamer Charakter zugrunde liegt, hat mehrere Ursachen. Da ist zum einen der Bandleader selbst, der sich niemals in den Vordergrund drängt. Nichts liegt ihm ferner als ein Gitarrenalbum mit Begleitung. Die fünf Stimmen werden zu einem engmaschigen Bandsound verwoben. Der Star der Gruppe ist immer die Band selbst, selbst die Soli sind nie als Einzelleistungen angelegt, sondern immer als Färbungen innerhalb des Gesamtklanges. Das setzt natürlich eine große Bereitschaft aller Beteiligten voraus, sich auf Frankls Maximen einzulassen. Doch da es hier vielmehr um das Zusammenwirken einander vertrauter Persönlichkeiten geht als um eine Nabelschau musikalischer Fertigkeiten, bereitet das niemandem Probleme und erhöht den Reiz des gemeinsamen Spiels. Eine Band ist für Frankl stets und insbesondere hier mehr als die Summe der einzelnen Mitglieder.

Ein weiterer Faktor ist eine Klangphilosophie, die aufs erste Ohr sehr amerikanisch anmutet. Dass Frankls Lehrer unter anderem die beiden Amerikaner Kurt Rosenwinkel und Ben Monder sowie der lange in New York beheimatete Wolfgang Muthspiel waren, fällt dabei weniger ins Gewicht als eine bewusste Entscheidung. „Das ist mein erstes Album, bei dem alle Musiker in einem Raum aufnehmen und nicht in Kabinen stecken“, erläutert der Gitarrist. „Es war mir wichtig, diesen Bandsound so gut wie möglich einzufangen. Diese Grundhaltung kennt man von vielen amerikanischen Alben. Gerade die beiden letzten Alben von Ben Wendel, die auf diese Weise entstanden sind, haben mich sehr inspiriert. Diese Interaktion, dieser Bandsound, wirkt sich aufs Spielgefühl aus und man hört ihn einfach anders.“

Bei den Titeln des Albums fällt auf, dass drei Songs sich auf Orte in New York beziehen, während vier Stücke auf andere Themen eingehen. In dieser Hinsicht ist „72 Orchard Street“ ein halbes Konzept-Album. Bevor er mit den Arbeiten zu dem Album begann, lebte Frankl ein halbes Jahr in New York. „Ich kenne die Stadt sehr gut, wusste genau, an welchen Orten ich mich wohlfühle und konnte diese in einen bestimmten Sound einpassen. In der Orchard Street lebte ich in einem typischen New Yorker Apartment, das vom Schimmel befallen war. Da musste ich innerhalb von drei Tagen raus. In der Clinton Avenue in Brooklyn fühlte ich mich viel wohler, weil ich dort viel mehr Ruhe fand als in Manhattan. Und in der Myrtle Avenue war ein Coffee Shop, in dem ich viel an den Fragen für meine Podcasts arbeitete.“

Wollte man nach einer Entsprechung zu Frankls Musik in der bildenden Kunst suchen, so wäre das sicher der amerikanische Maler Mark Rothko, gleichermaßen abstrakter Expressionist und impressionistischer Farbpsychologe, von dem ein großes Poster an der Wand des Sechs-Saiten-Klangmalers hängt. Ähnlich Rothko schichtet Frankl Farbflächen übereinander, aus denen sich, sowie man sich in sie versenkt, eine Dynamik der subtilen Bewegung ergibt. „Ursprünglich bin ich mit Grunge und Nirvana aufgewachsen“, so Frankl, „aber was mich schon damals an Jazz faszinierte, war diese Farbigkeit der Akkorde und Flächen. Das wurde dann später durch meinen Unterricht bei Wolfgang Muthspiel vertieft, weil auch er eine sehr spannende Farbigkeit aufweist. In den Bildern von Mark Rothko kann ich mich sehr stark wiederfinden. Diese Farben, Verläufe und Emotionen von Farbtexturen liegen mir.“

Aus all diesen einzelnen Persönlichkeiten, Haltungen, Klangfarben, Verortungen und strukturellen Ansätzen ergibt sich ein musikalisches Kaleidoskop, das man je nach Tageszeit und Stimmung immer wieder ganz unterschiedlich hören kann. Es ist Max Frankl auf geradezu magische Weise gelungen, ein musikalisches Ambiente zu schaffen, in dem sich jeder beteiligte Musiker mit seinen Stärken und Präferenzen wiederfinden kann. Frankl ist ein zurückhaltender Bandleader, der trotzdem genau weiß, was er will, und über die Fähigkeit verfügt, eine heterogene Gruppe von Menschen in die Richtung zu tragen, in der die Saat seiner Ideen am besten aufgeht. Frankl macht seinem Publikum ein großzügiges Angebot. Die kompositorische und spielerische Eleganz, mit der die Stücke angelegt und umgesetzt werden, wie auch ihre Leichtigkeit und selbst in komplexen Momenten unverstellte Zugänglichkeit sind zu beinahe jeder musikalischen Vorliebe kompatibel.

Max Frankl gehört zu den gesegneten Musikerpersönlichkeiten, die absolut eins mit ihrer Musik sind. Er selbst kann das jedoch in viel schönere Worte fassen. „Als Musiker versucht man sich mit jedem Album neu aufzustellen. Vor ‚72 Orchard Street’ hatte ich ein Album mit Walrus Ghost aufgenommen, das in Richtung Ambient ging. Die Hingabe, mit der Walrus an seine Produktionen rangeht, hat sich unbewusst ebenso auf meine Herangehensweise ausgewirkt wie diese New Yorker Energie, dass man, koste es, was es wolle, seine Pläne umsetzt. Die neue Platte ist nun eine Rückkehr in diese Jazz-Umgebung, die mir so wahnsinnig gut gefällt. Ich habe das Gefühl, meine Stimme als Gitarrist so klar artikulieren zu können, wie ich das noch auf keinem Album zuvor empfunden habe. Ich wünsche mir, dass man dieses Album als neuen Schritt empfindet. In dieser Hinsicht ist es ein zweites Debütalbum geworden.“

 

nWog Rec/ nWog039 / LC 77779  / 0048464507154 /  Vertrieb: Edel

VÖ 25.03.2022

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