Nano Brothers – Ascend Flowers

Dieses Album ist einer jener wenigen kostbaren Momente, in denen wir beim Hören der Entstehung von etwas völlig Neuem beiwohnen können.

Das Vertraute und Bekannte noch einmal von Grund auf hinterfragen und mit verblüffenden Lösungen neu verorten.

„Alles ist improvisiert, auch wenn es nicht so klingt.“ Mit diesen knappen Worten fasst Pianist Jürgen Friedrich das Programm des zweiten Albums der Nano Brothers, seines langjährigen Duos mit Saxofonist Johannes Ludwig, zusammen. Improvisation, die nicht improvisiert klingt? Was genau heißt das? Man braucht nur wenige Takte von „Ascend Flowers“ zu hören, um der Antwort auf diese Frage auf die Spur zu kommen. Ludwig und Friedrich spielen die meist kurzen Improvisationen mit einem im Kontext frei improvisierter Musik in dieser Konsequenz wirklich noch nie gehörten Bewusstsein für Form, Dramaturgie und Hörbarkeit. Denn – daran erinnern uns die beiden Musiker mit diesem Album auf entwaffnende Weise – Musik ist eben nicht nur das, was gespielt, sondern am Ende der Inspirationskette auch immer das, was gehört wird. So soll es sein. Das Machbare und das Hörbare finden hier zu einem beispielhaft poetischen Einklang.

Nun gibt es ja sehr verschiedene Auffassungen von Improvisation. Für die Nano Brothers handelt es sich nach den Worten von Jürgen Friedrich um das ganz große Abenteuer, bei dem am Anfang des Stückes niemals klar ist, wohin die Reise geht und wo sie jeweils endet. Die Form der Stücke ergab sich aus der Logik des Spiels. Friedrich und Ludwig wissen nicht nur, wie ein Stück verläuft, sondern auch präzise, wann es endet. Diese souveräne Beschränkung aufs Wesentliche, das im Gegenzug gigantische Kreativräume freisetzt, macht den unverwechselbaren Reiz des Albums aus.

Es fällt wirklich schwer, für „Ascend Flowers“ eine Vergleichsebene zu finden. Auch die beiden Musiker selbst orientierten sich nicht an Vorbildern, die auch sie zweifellos haben, sondern ließen ihrer Musik unabhängig von Vorprägungen jeglicher Art ihren Lauf. Es ist verblüffend wie die Nano Brothers um die Ecke biegen und die seit über 60 Jahren bestehende frei improvisierte Musik völlig neu konfigurieren, als hätte es ein derartiges Genre nie gegeben.

Ganz planlos verliefen die Improvisationen des Duos dennoch nicht. Man traf sich zunächst, um einfach drauflos zu spielen, hielt dann inne, ließ nach einer Zeit der Stille das Gehörte Revue passieren und wählte die prägnantesten Momente aus, um sie unter bestimmten Gesichtspunkten erneut zu bündeln. „Vielleicht brauche ich es als Vorbereitung“, so Friedrich, „dass ich gewisse Parameter isoliere, auf die ich mich dann konzentriere. Wenn es aber an die konkreten Aufnahmen geht, finde ich es besser, nicht mit einer Vorgabe zu starten.“ Es gab sogar noch eine dritte Ebene in der Nachbearbeitung, bei der einzelne Sounds und spielerische Momente dezent und mit viel Augenmaß elektronisch modifiziert wurden, ohne dass es nach elektronischer oder partiell elektronisch generierter Musik klingt. Am Ende dieses Prozesses standen Stücke, die immer noch den Charakter freier Improvisationen tragen, aber nach dem dreistufigen Schleusensystem wie kompakte Songs anmuten.

Sämtliche Songs wurden innerhalb einer durchlaufenden Session aufgenommen, in der am Anfang auf Start gedrückt und der Prozess dann für mehrere Stunden nicht unterbrochen wurde. Von keinem Song gibt es mehr als einen Take. Zwischen den Stücken lagen durchaus Pausen, aber die Aufnahme lief weiter. „Wenn man dann mit dem nächsten Song begann“, erinnert sich der Pianist, „hatte man noch sehr deutlich im Ohr, was man zuvor gemacht hatte. Um uns selbst nicht zu langweilen, waren wir gezwungen, mit einer ganz anderen Stimmung fortzufahren. Auf diese Weise konnten wir eine große Diversität der Stücke garantieren.“ Am Ende hielt man mehr als 30 Tracks in den Händen, von denen man die prägnantesten auswählte.

Ludwig und Friedrich setzen auf eine Vielzahl von Idiomen, die sich extrem voneinander unterscheiden. Einerseits aus einem Guss, da sich das Konzept und die dem Projekt zugrunde liegende Haltung vom ersten bis zum letzten Song durchziehen, zeigen die Nano Brothers in den 12 vorliegenden Tracks trotzdem 12 verschiedene Gesichter. Es geht auf „Ascend Flowers“ nicht um ein Ritual oder einen Trip der Musiker, an dem sie die Hörerschaft teilhaben lassen, sondern um die radikale Poesie spontan empfundener Substanz.

Die ungewöhnlich hohe Kompaktheit und Dichte des Albums beruht nicht zuletzt auf den intensiven Erfahrungen von Jürgen Friedrich mit seinem Large Ensemble, in dem er als Klangregisseur großer Produktionen wie in einem Film oder einer Theateraufführung alle Fäden in der Hand hält. Es scheint, als würde er das große Ensemble manchmal bewusst oder unbewusst mitdenken. Johannes Ludwig ist ein kongenialer Partner. Seine Ohren verstehen und seine Finger müssen nicht nachdenken. Als Naturtalent der Kommunikation lässt er der Musik alle Zeit und allen Raum, die sie braucht. Der Klang im Raum ist eine dritte maßgebliche Komponente auf „Ascend Flowers“. In der Nachbearbeitung wurde dann noch Mixer Hannes Plattmeier zu einem Partner-in-Crime, indem er den Sound um zusätzliche Effekte und Facetten erweiterte und den Charakter des jeweiligen Songs verstärkte.

„Ascend Flowers“ ist einer jener wenigen kostbaren Momente, in denen man beim Hören der Entstehung von etwas völlig Neuem beiwohnen kann. Die Vision liegt darin, das Vertraute und Bekannte noch einmal von Grund auf zu hinterfragen und mit verblüffenden Lösungen neu zu verorten. Jürgen Friedrich und Johannes Ludwig gelingt nicht weniger, als mit frei improvisierter Musik über Start zu gehen und damit im besten Fall eine komplett neue Hörerschaft zu erreichen.

KLAENG records / LC 30645 / 0016027172798 / Vertrieb: klaengrecords.de/bandcamp

VÖ: 06.09.2024

Fotos I Cover