Phillip Golub – Abiding Memory

Eine musikalische Suite und Reise durch neue musikalische Welten. Dinge aus der Vergangenheit werden zitiert und in einen neuen Kontext gestellt: Innovation im Modern Jazz.

„Ein Album, das die Bandbreite unserer Gefühle widerspiegelt – mit schönen, verwirrenden, tröstenden und beunruhigenden Momenten“. So beschreibt der New Yorker Komponist und Pianist Phillip Golub die Stücke auf seinem neuen Album Abiding Memory, das zu den interessantesten Neuerscheinungen im Modern Jazz zählen dürfte. Die Kompositionen klingen avantgardistisch, haben Ecken und Kanten und erinnern an Klangcollagen.

Ausgangspunkt waren Skizzen und Fragmente, die Golub zusammen mit seinem Schlagzeuger Vicente Atria entwarf. Die bewusste Entscheidung, die Einspielung mit Kontrabass und Cello umzusetzen, stärkte den expressiven Charakter der Stücke enorm. Das Album ist als musikalische Suite angelegt – mit zusammenhängenden Themen und Melodien. „Dabei hatten wir zwei Kernideen im Kopf: Schlagzeug mit variierendem Tempo und ‚Klavier Plus‘. Was bedeutet: ursprünglich ist es Klaviermusik, inspiriert von Werken des späten 19. Jahrhunderts. Doch dann bricht sie plötzlich aus und verschmilzt mit dem Quintett, wodurch die Grenze zwischen den einzelnen Instrumenten und dem Klavierklang verschwimmt.“

Golub geht davon aus, dass sein Publikum die musikalische Verbindung zwischen den einzelnen Stücken versteht – zumindest auf Unterbewusstseinsebene. „Der Zweitakt-Loop am Anfang und ganz am Ende ist identisch. Er zieht sich durch das gesamte Album und steht für die „bleibende Erinnerung“, erklärt der Komponist. Die Titelnamen entwickelten die Bandmitglieder zusammen mit einem Freund, der Gedichte schreibt. Das Auftakt-Stück Catching a Thread geht in Threads Gather über. Es folgen The Group to Hear, A Regrouping und Unspooled (Waiting Quietly). Letzteres entstand unter höchst ungewöhnlichen Umständen und veranschaulicht, wie Golub seine Ideen in Musik umsetzt. „Ich bat den Toningenieur, den Ton mitzuschneiden, während wir beim Essen saßen“, erinnert sich Golub, der Parallelen zwischen Essen und Musizieren sieht. „Beides ernährt uns und hilft uns beim Überleben.“

Nachdem er einige Akkorde auf dem Klavier gespielt hatte, legte der Toningenieur den Mitschnitt auf die Kopfhörer der anderen Bandmitglieder. „Ich bat sie, sich auf diese Akkorde zu konzentrieren und Passagen aus dem Album zu zitieren. Man könnte daher sagen, dass in Unspooled(Waiting Quietly) der Kern des Albums entfesselt wird“. Das sechste Stück, In A Secret Corner, überrascht mit ungeraden Taktarten, und schnellen Tonfolgen. Man könnte es als „verzerrte Erinnerung“ an The Group To Hear beschreiben“, so der Komponist.

Das rockig anmutende At the Eleventh Hour steht für den nahenden Mitternachts-Punkt des Albums. Auf A Moment Becomes erklingen insgesamt fünf Klaviere, drei Cembali und vier E-Pianos. Dadurch entsteht ein „geheimnisvoll anmutender Klimax, der in der Zeit zu schweben scheint, während das Finale Abiding Memory die unterschiedlichen klanglichen Elemente und Produktionsstile des Albums vereint“, erläutert Golub.

Wenn Golub komponiert, begibt er sich gerne in folgende Ausgangssituation: Er sitzt in einer Höhle und stellt sich die verrückteste Musik vor, die er schreiben kann. Inspiration erhält er dabei von Komponisten wie Scriabin und Brahms. Seine Ideen bettet er in Cembalo-, E-Piano und E-Drum-Klänge ein. Die Stücke enthalten aber auch mittelalterlichen Kontrapunkt, die Rubato-Sensibilität des Keith Jarrett Quartets und Akkordschichtungen wie bei Thelonius Monk. „Dinge aus der Vergangenheit zu zitieren und sie in einen neuen Kontext zu stellen – das verstehe ich unter Innovation. Wenn unserem Publikum diese Zitate auffallen, dann finde ich das großartig. Wenn nicht – auch nicht tragisch.“

Sämtliche Kompositionen wurden vom gesamten Quintett erarbeitet. Eine direkte politische Aussage hätten seine Stücke zwar nicht, sagt Golub, der sich seit Jahren in der „Music Worker`s Alliance engagiert“. Gleichwohl enthalte seine Arbeitsphilosophie durchaus politische Konzepte. „Etwa den Leitgedanken, die Beiträge meiner Bandkollegen wertzuschätzen und unsere gemeinsame Arbeit weniger als Wettbewerb, sondern als Kooperation zu sehen. Wenn ich arbeite, möchte ich eine Art Mikrokosmos schaffen. Und zwar keinen, der kritikwürdig ist, sondern einen, in dem sich die Beteiligten wohlfühlen“, stellt er klar.

Golub findet, dass sich viele Komponisten moderner Musik unnötig zweifelnd über ihre Werke äußern. „Aber wenn wir unserem Publikum zu oft suggerieren, dass sie unsere Musik womöglich nicht mögen, dann geschieht leider häufig genau das.“ Er ist zudem davon überzeugt, dass Menschen, die wenig Beziehung zum traditionellen Jazz haben, Klängen, die Grenzen ausloten, viel offener gegenüberstehen. Denn am Ende sei Musik auch eine befriedigende körperliche Erfahrung. „Einem Gemälde kann man sich durch Weggucken entziehen. Musik einfach auszublenden, das funktioniert jedoch nicht so einfach.“

Auf Abiding Memory nehmen Golub und seine Bandkollegen ihr Publikum mit auf eine Reise durch neue musikalische Welten, die sie für experimentierfreudige Jazzliebhaber erschaffen haben. Dabei werden sowohl Körper, als auch Geist der Zuhörenden vollständig eingebunden und gefordert.

Die Band:

  • Phillip Golub (Komposition, Klavier, Cembalo, Fender Rhodes)
  • Alec Goldfarb (E-Gitarre)
  • Daniel Hass (Cello)
  • Sam Minaie (Kontrabass)
  • Vicente Atria (Schlagzeug)

 

phillip golub – home (phillipgolubmusic.com)

Berthold records   BR324045 / LC 27984 /  4250647324045 /  Vertrieb Cargo

VÖ: 21.06.2024


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