Raphael Walsers GangArt – Stüdis da la natüra

Dank der Natur als Inspiration ausserhalb der Jazzwelt bekommt diese Musik einen angenehm unangestrengten Gestus. Im Vodergrund steht eine Rhythmik ohne engmaschige Notenvorgaben und alles andere dient mehr als Mittel zum Zweck als zum Geprotze.

In den vergangenen Jahren hat sich Raphael Walser wiederholt mit den Inspirationsquellen Natur – Landschaften – Stimmungen beschäftigt. Stimmungen von bildlichen Erinnerungen an Landschaften in Musik umzusetzen, ist seit den ersten Kompositionsversuchen während dem Studium die Hauptinspirationsquelle für ihn und die Musik seines Quintetts GangArt. Während dies auf dem ersten Album „Wolfgang“ (2014, Double Moon Records) noch eher im Unterbewussten geschah, hat sich der Kontrabassist für das zweite Album „Zwischen Grund und Grat“ (2019, QFTF) das berühmte Alpentriptychon des Malers Giovanni Segantini vorgenommen. „Ich wollte schauen, was beim Komponieren passiert, wenn ich mir statt eigenen bildlichen Erinnerungen schon bestehende Landschaftsbilder vornehme. Bei Segantini habe ich Bilder aus einem Kulturraum gefunden, welche den Bildern in meinem Kopf nahekommen. Außerdem erzählen sie die Geschichte des Lebenskreislaufs.“ In diesen Lebenskreislauf hat Walser geschickt drei Schweizer Volkslieder mit einem ähnlichen örtlichen und zeitlichen Ursprung eingebettet, welche die Geschichten von den Segantini-Kompositionen umranken. Umgesetzt hat die Band die Lieder auf eine ganz unplakative Art. So grüsst bei ihm in Schaffhausen das Helvetische also nur noch aus fernster Ferne, ist eine Inspiration, die ganz anderswohin führt. Oder wie Walser sagt: «Die Schweizer Volksmusik ist bei mir fast komplett verdaut worden, vielleicht kann man es so sagen.»

Nach diesen Studien der alpenländischen Kultur aus vergangenen Zeiten hat sich Walser für sein aktuelles Album in die aktuelle Zeit bewegt und sich mit der Engadiner Illustratorin Pia Valär zusammengetan. „Stüdis da la natüra“ (rätoromanisch Naturstudien) nennt sich das interdisziplinäre Projekt. „Viele Gemeinsamkeiten in unseren Arbeiten führten zu Diskursen, welche für uns beide erfrischend war und uns gegenseitig neue Herangehensweisen offenbarten. Die Basis ist die gemeinsame Faszination für die heimische Bergwelt und die zugehörigen Kulturen. Meiner Übersetzung beim Komponieren von Stimmung/Bild in Musik steht die Transformation von Text/Ton in Bild bei Pia gegenüber. So entstand die Idee für ein gemeinsames, audiovisuelles Projekt mit der Fragestellung: Welche Wege nehmen wir, wenn wir mit unseren eigenen künstlerischen Mitteln uns vom gleichen Inspirationspunkt aus bewegen und während des Prozesses im Dialog stehen? Wo treffen sich die Wege sowie Bild und Ton im Endprodukt?“ Beim Projekt entstanden sind verschiedene Elemente in Ton und Bild sowie auch eine gemeinsame Live-Performance im Duo.

Einen Teil der Kompositionen hat Walser nun mit GangArt für sein drittes Album „Stüdis da la natüra“ aufgenommen. Das Artwork stammt selbstverständlich von Pia Valär. Weil die Illustratorin für ihren Teil der Arbeit mit analogen Druckmethoden experimentierte, wurden die Covers der limitierten LP-Auflage selbst im Siebdruckverfahren bedruckt, was den visuellen Wert der Platte unterstreicht.

Walsers musikalische Wurzeln liegen einerseits in der klassischen Musik sowie der traditionellen Schweizer Volksmusik. Der aus einer Musikerfamilie stammende Zürcher kam mit 10 Jahren zum Kontrabass und noch während der Pubertät zum Jazz. Autodidaktisch lernte er fast schon chronologisch die verschiedenen Spielarten des Jazz auf dem Kontrabass kennen, und fand erst während dem Musikstudium zu aktuellen populären Musikstilen. Dank diesem fundierten Erfahren der Jazzgeschichte erstaunt es nicht, dass in der Musik von GangArt ein deutlicher, aber sehr unprätentiöser Bezug zur Jazzgeschichte hörbar ist. So erlauben auch die Kompositionen einen freiheitlichen Umgang mit der Musik: Die Stücke möchten dynamische Verläufe offenlassen und gewähren der Band somit momentbezogenen Gestaltungsfreiraum und den Charakteren Platz für individuelle Entfaltung. Dank der Natur als Inspiration ausserhalb der Jazzwelt bekommt die Musik einen angenehm unangestrengten Gestus. Im Vodergrund steht eine Rhythmik ohne engmaschige Notenvorgaben und die Instrumentaltechnik dient bei GangArt mehr als Mittel zum Zweck als zum Geprotze. Stücke wie „Siluettas – Gemsfairen“ oder „Nüvlas“ zelebrieren eine verträumte, entspannte Stimmung, wie man dies von Miles oder Wayne Shorter kennt.

Ebenso wichtig für GangArts typischen Bandsound wie die Kompositionen sind die Mitmusiker, welche dank den ihnen gewährten Freiheiten die Musik von GangArt seit bald 10 Jahren entscheidend Mitprägen. Mit dem Schlagzeuger Jonas Ruther spielt Walser schon seit dem Gymnasium zusammen in verschiedenen Formationen. Ruthers klangbewusstes Spiel macht ihn zu einem gefragten „Beat-Wizzard“ im Jazz-Impro-Bereich wie z.B. als Co-Leader in den sphärischen Klangmeditationen und minimalistischen Grooves des Duos HELY. Tenorsaxofonist Ganesh Geymeier kennt man als feuriger Solist der „Rainmakers“, einem Südafrikanisch-Schweizerischen Quartett unter der Leitung von Bänz Oester, eines ehemaligen Lehrers von Walser. Als lyrischer Gegenpol zu Geymeier steht Niculin Janett am Altsaxofon. Mit seinem familiären Hintergrund als Abkömmling der Engadiner Volksmusikdynastie Janett teilt er einen Teil der musikalischen Wurzeln mit Walser. Marc Méan sich als Sideman beim Quintett „Mats-Up“ wie auch als Bandleader und kürzlich als Solokünstler am Klavier wie an elektronischen Tasteninstrumenten einen Namen gemacht.

 

Ein Vollblutjazzer und -bassist mit Naturherz und einem Fuß in der Volksmusik also ist für sein aktuelles Album eine fruchtbare interdisziplinäre Kollaboration eingegangen mit der Illustratorin Pia Valär. Sein erdiges, stets sensibles und lustvolles Bassspiel stützt ein Quintett junger, experimentierfreudiger Schweizer Jazzer, das mit den Freiheiten der offenen Kompositionen mit einer faszinierenden Gelassenheit umzugehen weiß. Durch die Einflüsse der interdisziplinären Zusammenarbeit und die Inspiration aus der Natur hat Walsers Musik eine erfrischende Zugänglichkeit, die durch die visuelle Komponente dieser Naturstudien eine weitere Dimension und damit wahrscheinlich auch ein Publikum außerhalb des Jazzkellers erreicht. „Stüdis da la natüra ist eine audiovisuelle Sammlung, die Formen und Farben, Strukturen, Texturen und Stimmungen aus der Natur zum Klingen bringt.“

ANUK 0041 /  LC 23330 / Eigenvertrieb: anuklabel.com

LP 4062851894258  / CD + Digital 4062851894241

Veröffentlichung: 23. Oktober 2020

Fotos I Cover