Robert Keßler Trio – BLOODLINE

Bloodline – das heißt so viel wie Stammbaum. Jeder Künstler muss für sich selbst ehrlich die Entscheidung treffen, wem er sich verpflichtet fühlt, und warum. Sich selbst und damit denen, die sich mit seinen Statements identifizieren können, oder äußeren Faktoren wie medialen Erwartungen, Zeitgeist oder einem Kanon. Der Gitarrist Robert Keßler hat eine ganz klare Entscheidung getroffen, und sein Album „Bloodline“ legt von diesem Schritt Zeugnis ab.

„Bloodline“ ist kein Konzeptalbum, und doch folgt die CD einem ganz klaren Konzept. Dieses Konzept heißt Leben. Nicht irgendein imaginäres Leben oder das Leben an sich, sondern Robert Keßlers ganz persönliche Bilanz der letzten zehn Jahre. Seine Rolle als Familienvater, geduldiger Freund und selbstloser Coach für unzählige junge Musikerinnen und Musiker sowie all die anderen Faktoren, die seine eigenen musikalischen Ambitionen über weite Strecken hintenanstellen. „Es ging nicht darum, mich nur auf mich zu besinnen“, hält Keßler fest. „Das fällt mir eher schwer. Deshalb erscheint diese Platte auch zehn Jahre nach der letzten. In den zurückliegenden Jahren war eben nicht ich an der Reihe, sondern Kinder, Studenten und andere Menschen.“ Er ist ein ebenso stiller wie wacher Beobachter seiner Umgebung und auch des eigenen Spiegelbildes. Am Ende treten wir einem Musiker mit der seltenen Gabe gegenüber, sich selbst zu kennen. Robert Keßler definiert sich nicht über seine Konflikte, sondern ist – zumindest nach außen – ein Pragmatiker der Alltagspoesie. Vergnügtheit und Versonnenheit sind die wesentlichen persönlichen Ingredienzien, mit denen er seinen Stücken ihr besonderes Flair verleiht.

Robert Keßler ist ein unermüdlicher Klangforscher, der sich nicht mit der Suche begnügt, sondern nur Gefundenes akzeptiert. Er feilt an jedem Ton so lange, bis er hundertprozentig stimmt. Nichts liegt ihm ferner, als die Jazzgitarre neu zu erfinden, und doch ist „Bloodlines“ ein höchst originäres Statement. Wer Robert Keßler noch nie getroffen hat, nichts über ihn gelesen hat noch sonst irgendetwas über ihn weiß, wird in diesen sieben Songs einem Menschen sehr nahekommen können. Er verrät uns viel über seine Kinder, sein Viertel, seine Weltsicht. „Bloodline“ ist das grundehrliche Selbstporträt einer Künstlerpersönlichkeit, die ihre Prioritäten erkannt hat und diese mit allen Konsequenzen umzusetzen weiß. Die Melodien auf „Bloodline“ mögen beim ersten Durchgang noch keine Patina auf der Hörmembran hinterlassen, wie das vielleicht bei einem Pat Metheny der Fall ist, doch gerade ihre leidenschaftliche Beiläufigkeit flößt im Handumdrehen ein Gefühl von Vertrautheit ein. Der Gitarrist bietet uns einen sanften Dialog an, in den die Zuhörer genauso involviert sind wie die beteiligten Musiker. Die Atmosphäre dieser Songs legt sich auf die Stimmung und sinnliche Wahrnehmung nieder wie der verheißungsvolle Bratenduft in einer Gaststube, in der man zum Abendessen eingeladen ist.

Die sieben Songs auf „Bloodline“ sind nicht gezielt für das Album entstanden, aber auch kein „Best of Schublade“ der letzten zehn Jahre. Sie sind Keßler vom Leben aufs Notenblatt geschrieben worden und mit dem Leben entstanden. Er hatte keine Wahl. Ein anderes Album zu formulieren, war keine Option, denn dies und nur dies ist die Geschichte, die er in diesem Augenblick erzählen kann. Doch das nächste Kapitel wartet schon.

Neben all diesen persönlichen Geschichten ist das „Bloodline“ auch eine Hommage an Keßlers Instrument. Jedem einzelnen Ton huldigt er in derselben Weise wie den Menschen in seiner Umgebung. Da gibt es nichts Zufälliges, Ungewolltes oder Banales, keinerlei Hierarchien oder Kategorisierungen. Musiker wie Barney Kessel, Jim Hall oder Pat Metheny blicken ihm beim Spielen über die Schulter, schmunzeln und wippen sacht in den Grooves des Berliners mit. „Bloodline“ ist ein lupenreines Jazzalbum, das zwar nicht mit Konventionen bricht, innerhalb des Jazzvokabulars aber zu sehr unkonventionellen Erzählsträngen führt.

Zur Seite stehen Keßler auf „Bloodline“ zwei Musiker, mit denen ihn persönlich viel verbindet. Mit Schlagzeuger Tobias Backhaus ist Keßler seit dem Studium befreundet. Jedesmal, wenn er mit dem Drummer auf einer Bühne steht, ist er aufs Neue beeindruckt, was Backhaus in der Musik entdeckt und dann daraus macht. Andreas Henze ist für den Gitarristen der Berliner Bassist mit dem schönsten Solo-Ton. Wo man bei anderen Bassisten abschaltet, hört man ihm besonders gerne zu, jubiliert Keßler. Auch bei seinen beiden Begleitern, die eher Mitverschworene sind als Sidemen im gängigen Sinne, ist es die besondere Kombination aus menschlichem Einfühlungsvermögen und musikalischer Brillanz, die sie für das Zusammenspiel mit Robert Keßler empfiehlt.

„Bloodline“ ist aus vielen Gründen die ideale Schleuse, durch die man nach einem langen Arbeitstag die Ruhe für den Feierabend findet, das Lotsenschiff, das uns über die Untiefen des Alltags hinwegführt, die Zauberformel, die das Ich im Wir und das Wir im Ich postuliert. Für Keßler selbst ist die CD eine Oase im Wahn der täglichen Anfechtungen und ein Stück Zuflucht. Last but not least ist „Bloodline“ eine zauberhafte Geschichte, die uns in den besten Momenten mehr zuzuhören als zu erzählen scheint.

www.robertkesslermusic.de

GLM EC 590-2 / 4014063159021 / LC 08975 /  Vertrieb: EDEL Kultur

Veröffentlichung: 19.März 2021

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