Swiss Jazz Orchestra & Christoph Irniger – The Music of Pilgrim

Die Philosophie der legendären Power Big Band von Thad Jones und Mel Lewis als Inspiration und die Idee der Big Band als ein großes Instrument

Eigentlich bringt man den Saxofonisten Christoph Irniger eher mit handlichen Formaten in Verbindung. In Bands wie Pilgrim, Cowboys from Hell, Noir, Counterpoints oder dem Christoph Irniger Trio bevorzugt er kleinere Besetzungen vom Trio bis zum Quintett, in denen er jede Stimme, Intention und Interaktion voll austariert zur Geltung bringt. Umso überraschender ist jetzt die Kompaktheit und Dichte, die er auf seinem Orchester-Debüt „The Music Of Pilgrim“ erlangt. Der Titel mag zunächst verwirren, denn obwohl es sich um Musik von und für Pilgrim handelt, ist es doch kein Pilgrim-Album. Aber dazu später mehr.

Ganz neu ist das Thema Big Band für den Schweizer nicht, denn immerhin war er von 2007 bis 2014 Mitglied im Lucerne Jazz Orchestra. Er weiß also, was er tut und betritt gemeinsam mit dem Swiss Jazz Orchestra dennoch Neuland. Diese Frische und Unvoreingenommenheit, mit der er sich vom Zehn-Meter-Brett ins Big-Band-Bassin fallen lässt, tut dem Album gut. Wie bei so vielen Produktionen der Gegenwart war auch hier die Pandemie Auslöser für etwas Neues. Doch im Gegensatz zu all den Künstlerinnen und Künstlern, die in der Abgeschiedenheit des Wohnzimmerstudios Solo-Projekte in Angriff nahmen, stürzte sich Irniger kopfüber ins ganz große Spektakel. Sattelfest in melodischen und rhythmischen Fragen, nutzte er die Zeit der Gig-Flaute, um sich ausgiebig mit harmonischen Fragen zu beschäftigen und kompositorisch weiterzuentwickeln. Er begann Harmoniefolgen und Arrangements zu schreiben und stieß auf die Philosophie der legendären Power Big Band von Thad Jones und Mel Lewis. Davon ausgehend begann er Kompositionen, die eigentlich für Pilgrim entstanden waren, für eine Großformation neu zu erfinden. Er dachte von Anfang an groß und aalte sich im fulminanten Spektrum der Möglichkeiten einer Big Band. Unumwunden gibt er zu, dass er dabei dem Lustprinzip frönte. Was er selbst hören wollte, setzte er in Noten.

Diese Lust am Spielen übersetzt sich unweigerlich in eine Lust aufs und am Hören. Man spürt die Kraft eines Kolosses, dessen Kessel bis zum Bersten mit großartigen Melodien geheizt wird. Der Druck des unbedingten Erzählenwollens hält den Motor fortwährend in Gang. Man kann gar nicht so schnell hinhören, wie die Ideen fließen. Diese Wollust am Fabulieren und Malen von variablen Klangbildern hat Irniger durchaus von seinen kleinen Bands mitgebracht und in ein unvorhersehbares Spiel mit Spannung und Entspannung übersetzt. „Es ist mir wichtig, originell zu sein“, postuliert er selbstbewusst. „Ich will in meiner Musik hören, dass sie von mir ist. Wenn ich mich dabei ertappe, etwas zu spielen, das ich schon mehrfach gehört habe, packt mich sofort das Bedürfnis, es zu durchbrechen. Damit will ich nicht sagen, dass es das überhaupt noch nicht gibt, aber in meiner Welt muss es zumindest neu sein. Ich schreibe mir die Dinge so, dass ich mich damit herausfordern kann.“

Einen willentlichen Bruch mit seinen bisherigen Projekten sucht Irniger in seiner Zusammenarbeit mit dem Swiss Jazz Orchestra nicht. Im Gegenteil, plötzlich war die Zeit da, etwas auszuprobieren, was er sonst vielleicht nicht in dieser Weise hätte umsetzen können, obwohl es schon lange in ihm gärte. Die Poesie des Unkalkulierbaren springt daher aus jeder einzelnen Note dieses Albums. Der Impuls für dieses Projekt ging gar nicht von Irniger selbst aus, sondern vom Swiss Jazz Orchestra, das den Saxofonisten im November 2020 als Solisten eingeladen hatte. Das Programm stand schon, konnte aber aufgrund des Lockdowns nicht verwirklicht werden. Also griff er sich ein Herz und fragte an, ob man das Konzert nicht mit seiner eigenen Musik nachholen könne. Das Orchester existierte bereits, das Material von Pilgrim war auch schon da. Es bedurfte also nur noch eines Weges, das Eine mit dem Anderen zu synchronisieren. „Ich musste nichts weiter tun, als die abgeschlossenen Stücke nochmal zu öffnen und etwas hinzuzugeben“, resümiert der frisch gebackene Big Band Leader. „Neu war für mich dabei der ganze Zusammenklang der Instrumente. Wie klingt eine Flöte mit einer Trompete? Das muss man ja wissen, denn die Flöte hört man nicht, wenn eine Trompete dabei ist …“

Mit vielen der beteiligten Musiker hat Irniger bereits in anderen Kontexten gearbeitet. Man kennt und schätzt einander. Das Swiss Jazz Orchestra ist ein gut organisierter Klangkörper, der jeden Montag ein neues Programm aufführt. Für Christoph Irniger war dieses Gemeinschaftsprojekt ein Glücksfall, denn alle Musiker gaben sich mit voller Kraft in die Kooperation ein. Egoismen und Allüren blieben vor der Tür. „Ich bin ja eher die kleine Besetzung gewohnt“, rekapituliert Irniger. „Mit 20 Musikern zu arbeiten, ist definitiv eine viel größere Herausforderung. Über das, was ich denke, muss ich reden können. Mit Leuten zu arbeiten, von denen ich nicht weiß, was sie denken, fällt mir schwer. Das SJO hat mit dieser Herausforderung leicht gemacht durch die positive Art, den Spirit, das Commitment und die Tatsache, dass ich eben viele Musiker schon aus anderen Kontexten kenne. Daher war die Arbeit ähnlich entspannt wie in den kleineren Bands, die ich gewohnt bin.“

Am Ende behandelt Irniger die Big Band wie ein großes Instrument. Die Aufnahme entstand live in einem relativ kleinen Raum. Diese physische Kompaktheit ist mit Händen zu greifen. Aus den einzelnen Stimmen ergibt sich ein Klangplasma, bei dem das separate Instrument kaum noch eine Rolle spielt. Im Live-Mix war fast jedes Instrument über jedes andere Mikrofon zu hören. Das war wie eine Lawine, die einmal ins Rollen gekommen, nicht mehr aufzuhalten ist. Eine Veröffentlichung der Aufnahme war deshalb ursprünglich gar nicht geplant, aber als Irniger sich das Ergebnis anhörte, fühlte er sich wie ein Zauberer. Die einmal entfachte Energie ließ ihm gar keine Wahl, als diesen Sound mit dem Rest der Welt zu teilen.

Christoph Irniger und eine Big Band? Klar, was sonst! Mit subtiler Vollpower erfindet der Meister der kleinen Formationen den großformatigen Jazz neu.

Swiss Jazz Orchestra & Christoph Irniger – The Music of Pilgrim

nwog rec / nwog 048 / 0 042706597583 / LC 77779 / Vertrieb: Indigo

VÖ: 21.10.2022

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